«Es braucht eine neue Perspektive!» – UX-Experten im Gespräch

Philippe Surber

Philippe SurberDezember 2020

Viel Potenzial liegt noch brach

Welche Art von Expertise braucht man eigentlich, wenn man Kundenportale von Krankenversicherern analysiert?

Basil Bonzi: Grundlage dafür ist viel Erfahrung im Umgang mit menschenzentrierten Methoden, um digitale Lösungen zu analysieren. Zudem hilft es natürlich, wenn man schon für verschiedene Krankenkassen Projekte umgesetzt hat.

Stefan Pieren: Zudem muss man sich paradoxerweise auch von seinem Know-how lösen und sich in durchschnittliche Benutzer:innen hineinversetzen können. Nach einigen Reviews beginnt man zu verstehen, wie etwas funktioniert – auch wenn es nicht logisch ist. Dieses Wissen muss man ausblenden können.

Und? Eure Erkenntnisse in Kürze?

Basil Bonzi: Die Spannbreite war gross. Von clever und unter Einbezug von Kund:innen gestalteten Portalen bis zu Lösungen, die wahrscheinlich keinen Usability-Test überlebt hätten. In der Branche der Krankenversicherungen liegt viel Potenzial brach. Ich denke da ans Automatisieren von Prozessen oder die transparente Information der Kund:innen über ihren Versicherungsschutz.

Stefan Pieren: Und die Entwicklungsbudgets fliessen zurzeit offensichtlich zuerst in die App-Entwicklung – nur was übrig bleibt, kommt noch bis zur Webvariante. Wer sind eigentlich die Menschen, die Kundenportale von Krankenkassen nutzen?

Basil Bonzi: Es sind jene vielen Menschen, die auch schon andere Kundenportale wie E-Banking nutzen und erwarten, dass sie auch bei ihrer Krankenversicherung die administrativen Dinge selbstständig erledigen können.

Die Spannbreite war gross. Von clever und unter Einbezug von Kund*innen gestalteten Portalen bis zu Lösungen, die wahrscheinlich keinen Usability-Test überlebt hätten.

Basil Bonzi
UX Architect

Das Differenzierungsmerkmal bei Krankenkassen

Das Leistungsangebot von Krankenversicherern lässt sich im Bereich Kundenportale gut vergleichen. Sie machen alle mehr oder weniger das Gleiche. Worin können sich die Anbieter überhaupt noch differenzieren?

Stefan Pieren: Wenn alle das Gleiche anbieten, ist es noch lange nicht dasselbe. Mit einem über alle Funktionen intuitiven, erwartungskonformen und einfach bedienbaren Portal – egal ob Website oder App – ohne grössere Nervfaktoren hat man für den grossen Teil der Kund:innen schon alles richtig gemacht.

Basil Bonzi: Klar, die Möglichkeit zum Rechnungen-Einreichen, das haben mittlerweile alle. Bloss: Das reicht nicht. Den Kund:innen hilfreiche Informationen dazu an die Hand zu geben, dass sie die eingereichte Rechnung und die folgende Abrechnung auch verstehen, das ist etwas, was momentan nur wenige Kassen anbieten.

Spielt die Qualität von digitalen Services der Krankenkassen überhaupt eine Rolle bei der Entscheidung für eine Kasse?

Basil Bonzi: Wir sind uns gewohnt, digital mit Unternehmen zu kommunizieren, und haben hohe Erwartungen an digitale Services. Ich bin überzeugt, es wird insbesondere für zukünftige Generationen eine wesentliche Rolle spielen, ob sie auch rein digital mit ihrer Kasse interagieren können.

Stefan Pieren: Liegen die Prämien nahe beieinander, geben die digitalen Services schon mal den Ausschlag.

Liegen die Prämien nahe beieinander, geben die digitalen Services schon mal den Ausschlag. 

Stefan Pieren
Senior Account Executive

Krankenversicherer waren lange keine Treiber der Digitalisierung

Das Internet gibt es seit 30 Jahren. Trotzdem kann ich bei meiner Krankenversicherung erst seit Kurzem Rechnungen online einreichen. Wie erklärt ihr euch das?

Stefan Pieren: Die Krankenversicherer gehörten lange nicht zu den Treibern der digitalen Transformation, das hat sich zum Glück geändert. Ein gut gemachtes Kundenportal mit all den automatisierten Prozessen und Schnittstellen in die internen Kernsysteme kostet aber erst mal Geld. Viel Geld. Diese Investition muss sich in einem so kompetitiven Markt wie bei den Krankenversicherungen rechnen.

Basil Bonzi: Es hat auch damit zu tun, wie die Krankenkassen gewachsen sind und dass die internen Systeme typischerweise nicht dazu geeignet sind, komplexe Prozesse für Kund:innen einfach abzubilden. Ganz zu schweigen von der Performance, die sich ebendiese Kund:innen wünschen.

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Drei Faktoren beeinflussen die User Experience zentral: der User, das System und der Benutzungskontext. Welche Rolle spielt eigentlich der User bei der Entwicklung von Kundenportalen?

Stefan Pieren: (lacht) Ich hoffe doch eine zentrale! Ich denke, dass heute niemand mehr ein grosses Vorhaben wie ein neues Kundenportal umsetzt, ohne die späteren User:innen zu involvieren.

Basil Bonzi: Werden die Nutzer:innen nicht von Beginn an in die Entwicklung mit einbezogen, entstehen Kundenportale, die für den User nicht praktikabel sind und schliesslich wieder zu höheren Aufwänden für den Kundendienst führen. Es ist immens wichtig, dass man die beiden Perspektiven verbindet: die Sicht des Anbieters auf seine Kund:innen und die Sicht der Kund:innen auf den Krankenversicherer.

Eine enorme Bandbreite an Bedürfnissen

Wie vielfältig sind die Bedürfnisse der Nutzer:innen von Krankenkassen-Kundenportalen?

Stefan Pieren: Da alle Menschen in der Schweiz krankenversichert sein müssen, ist die Bandbreite an potenziellen Bedürfnissen enorm! Es gibt die Gelegenheitsnutzerin, welche die Vorteile des Kundenportals für sich entdeckt. Aber auch Digital Natives, die alles online machen wollen. Hier den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, ist eine Herausforderung.

Basil Bonzi: Die Herausforderungen werden in Zukunft sogar noch vielfältiger sein als heute. Es gibt Nutzer:innen, die Versicherungsanträge und Offerten rein digital auf ihren Smartphones ausfüllen wollen. Heute muss ich bei meiner Krankenkasse immer noch ein Papier ausdrucken und wieder einscannen.

Seit 2010 gibt es die ISO-Norm 9241-210, die den «Prozess zur Gestaltung gebrauchstauglicher interaktiver Systeme» beschreibt. Können die von euch untersuchten Kundenportale gegenüber dieser Norm bestehen?

Basil Bonzi: Einige Portale erfüllen diese Norm. Wir haben festgestellt, dass diese Portale unter Einbezug von Nutzer:innen entwickelt worden sind. Einige Portale widerspiegeln aber klar die Innensicht der Versicherung auf ihre Kund:innen. Die ISO-Norm fordert von Versicherungen, die berühmte «Kundenbrille» aufzusetzen. Sie müssen ihre Sicht auf ihre Kund:innen neu definieren sowie Grenzen zwischen internen Silos und Abteilungen überwinden.

Stefan, du hast dich als Informationsarchitekt schon mit digitalen Portalen auseinandergesetzt, als der von Don Norman geprägte Begriff User Experience noch nicht geläufig war. Was hat sich in den letzten beiden Dekaden diesbezüglich verändert?

Stefan Pieren: Als ich vor ziemlich genau 20 Jahren mithelfen durfte, ein Online-Portal für eine Grossbank inhaltlich zu konzipieren, wurden wir im Projekt als Freaks betrachtet. (lacht) Wir gingen damals grosszügigerweise davon aus, dass 5 Prozent der Kund:innen dieses Angebot überhaupt nutzen können und werden.

Die Entwicklung von Wissen und Methoden innerhalb der User Experience, der Technologiesprung mit dem Smartphone und natürlich auch die digitale Transformation in der Gesellschaft ermöglichen uns heute, Portale für 90 Prozent der Kund:innen zu konzipieren. Ich hätte damals nie gedacht, dass dies einmal der Fall sein würde. Es arbeiten heute Heerscharen von Spezialist:innen daran, das digitale Leben für alle einfacher zu machen. Das sieht man (auch) an der Evolution von Kundenportalen.

Zu den Personen

Stefan Pieren, Senior Account Executive

Stefan betreut und berät als Senior Account Executive seit 2012 Kunden im Bereich Finance & Insurance. Zuvor konzipierte er zwölf Jahre als Informationsarchitekt Websites, Portale und Onlineshops.

Basil Bonzi, UX Architect

Basil beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Vor seiner Zeit bei Unic hat er sich mit den komplexen Strukturen des Schweizerischen Tarifsystems sowie der Verarbeitung von Leistungsabrechnungen mit künstlicher Intelligenz beschäftigt.

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